Zeitkultur und Esskultur
Wolfgang Reiter ist Kulturwissenschaftler, Kritiker, Dramaturg und zusammen mit Hanni Rützler Autor des Buches „food change – 7 Leitideen für eine neue Esskultur“
Wolfgang Reiter spricht über sein Buch „food change“: Zusammen mit Hanni Rützler hat er versucht, sieben Leitideen für eine neue Esskultur aufzuschreiben. Er ist der Meinung, dass wir uns heutzutage viel vormachen und Ausreden finden, warum wir im Alltag nicht mehr kochen können. Dabei berichtet Reiter aus seiner eigenen Biographie: „Ich war es gewohnt, für mich selbst zu kochen. Dann habe ich im Theater gearbeitet, wo niemand Zeit hatte zum Essen. Man ist schnell essen gegangen, wobei es aber genug Leute gab, die eigentlich gern gekocht hätten. Da wir über eine große Teeküche verfügten, haben wir einen Versuch gestartet: Ein Mitarbeiter hatte pro Tag eine Stunde mehr Freizeit zum Einkaufen und hat für die 40 vor Ort Beschäftigten gekocht und alle haben gemeinsam gegessen.“ Die MitarbeiterInnen haben als Konsequenz viel effizienter und zufriedener gearbeitet, als wenn sie nur eine halbe Stunde zu McDonalds gegangen wären, berichtet Reiter und konkludiert: „Es ist die Frage, ob ich das tun will und ob ich das in meiner Umgebung durchsetzen kann. In vielen Fällen ist es eine Ausrede, wenn ich behaupte, im Alltag keine Zeit zum Kochen zu finden.“ Er betont, dass es beispielsweise Convenience-Produkte gibt, die wenig Zeit in Anspruch nehmen, so etwa Salat.
Dass Convenience nicht nur als Produkt, sondern auch als Service zu verstehen sein kann, beweist das Beispiel des Berliner Projekts „Kochhaus“. Dieses zielt auf Menschen ab, die sich im Alltag nicht die Zeit nehmen, einkaufen zu gehen oder selbst zu kochen, es aber dennoch gerne tun würden. Kochhaus ist das erste Lebensmittelgeschäft, das sich konsequent dem Thema Selber-Kochen widmet und nicht mehr nach Warengruppen, sondern nach Rezepten sortiert ist. An frei stehenden Tischen voller frischer Zutaten finden die KundInnen alles, was sie zu einem bestimmten Gericht brauchen – gegliedert nach Vorspeisen, Hauptspeisen und Nachspeisen, für jeweils zwei, vier oder mehr Personen.
Zwischendurch nimmt sich Reiter auch die Zeit, in ein Restaurant essen zu gehen: „Ich gehe auch noch gern in Restaurants mit Sternen und Hauben essen. Man muss sich eben Zeit und Muße nehmen, denn der Abend dauert wirklich von 19 bis 24 Uhr, wenn man ihn genießen will. Nur dann hat man etwas davon“, ist sich Reiter sicher. Dass es ohne Essen nicht geht, erscheint verständlich. Statistisch betrachtet kann nur jede zweite Frau unter 40 Jahren kochen, Männer können es „sowieso grundsätzlich nicht“. Dabei ist laut Reiter kochen ebenso wichtig wie etwa lesen: Wer nicht lesen kann, ist nicht lebens- und gestaltungsfähig. Wenn wir uns nicht in die vollkommene Abhängigkeit von Industrielebensmitteln begeben wollen, müssen wir wieder die zentrale Kompetenz des Kochens lernen. Darin sieht er gleichsam eine Bildungsaufgabe, die bereits in der Grundschule wahrgenommen werden soll, wo Kinder noch Spaß und Lust daran haben, fordert Reiter. Mit der Kompetenz des Kochens lösen sich auch viele Probleme, die wir mit der Ernährung und der Nahrungsmittelindustrie haben.
Samstag, 07. Mai 2011