Anstiftung zur Rettung der Welt
Renée Schroeder wurde in João Monlevade, Brasilien, geboren. Sie studierte Biochemie in Wien und leitet seit 2005 das Department für Biochemie und Zellbiologie an der Universität Wien. Von 2001 bis 2005 war sie Mitglied der Bioethik-Kommission der österreichischen Bundesregierung, 2003 erhielt sie den Wittgensteinpreis und 2011 den Eduard-Buchner-Preis. Darüber hinaus wurde sie zu Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres 2002 gewählt.
Renée Schroeder blickt aus ihrer Sicht als Biochemikerin auf das Thema „Wachsen lassen“. Unser Universum ist vor etwa 13,8 Milliarden Jahren entstanden – dies war die Geburtsstunde der Physik. Mit der Bildung der ersten Atome „entstand“ die Chemie. Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren entstand die Erde. Auf unserem Planeten war es zunächst sehr heiß, ehe vor circa 3,5 Milliarden Jahren Leben entstehen konnte. Laut Wissenschaft werden die Bedingungen, welche das Leben auf der Erde ermöglichen, noch etwa 500 Millionen Jahre lang gegeben sein, ehe schließlich das gesamte Wasser der Erde aufgrund großer Hitze verdampfen wird. Vom gesamten Zeitraum, in dem die Bedingungen für Leben auf der Erde günstig waren, sind bereits sieben Achtel vergangen. Vor etwa zwei Millionen Jahren ist der Mensch entstanden. Eine Frage, die von Schroeder besonders hervorgehoben wird, ist jene nach der Entstehung des homo sapiens: Wann und wie hat sich diese Spezies entwickelt? Vor ungefähr 70.000 Jahren hat es im Laufe der Evolution eine kognitive Entwicklung gegeben, sodass es dem Menschen zum ersten Mal möglich war, etwas zu denken, das es nicht gibt. Dies war die Geburtsstunde der Kultur, so Schroeder. Plötzlich war der Mensch im Stande, Dinge zu tun, die er sich erdacht hat. Neben Alltagsgegenständen oder Werkzeugen hat er sich vor allem eines erdacht: Mythen. Geschichten, Götter oder die Zukunft waren es, über die sich der damalige Mensch Gedanken gemacht hat. Doch warum war dies evolutionär so erfolgreich? Es gab zu dieser Zeit verschiedene Menschenarten, die ausgestorben sind, weil sie entweder vom homo sapiens verdrängt oder ausgelöscht wurden, sodass der sapiens übrigblieb. Dieser hat sich auch mit dem Neandertaler vermischt. Unsere Art hat überdauert, da sie die Fähigkeit zu denken und Mythen zu entwickeln hatte. Dazu gibt es einige Theorien, warum dies ein so erfolgreiches Konzept darstellte. Eine besagt, dass Mythen eine Metaebene bildeten, welche die Menschen veranlasst hat, sich in größeren Gruppen zu organisieren. Solche identitätsstiftenden Mythen lassen die Gruppe stärker werden, zum Beispiel hinsichtlich einer äußeren Bedrohung. Der Jäger und Sammler von damals war im Vergleich zum heutigen Menschen viel fitter. Wir sind heute eigentlich nur in der Gruppe stark, so Schroeder. Der Einzelne hat kaum eine Chance zu überleben; insofern müssen wir uns überlegen, wie wir als soziale Wesen gemeinsam weiterkommen.
Für ihr Buch hat Renée Schroeder UNO-Statistiken zur Weltbevölkerung studiert. Dabei fiel ihr eine Entwicklungskurve auf, die zur Grundlage ihres Buches wurde. Diese Statistik besagt, dass es um etwa 400 v. Chr. auf unserem Planeten circa 300 Millionen Menschen gab. Im Jahre Null waren es immer noch 300 Millionen, im Jahr 1000 310 Millionen Menschen. Erst im 17. und 18. Jahrhundert begann der Mensch, sich zu vermehren. Für Schroeder stellt sich dabei die Frage, aus welchen Gründen die Menschheit 2000 Jahre lang nicht wachsen konnte. 1810 sind circa eine Milliarde Menschen statistisch erfasst, 1920 zwei Milliarden, 1960 drei Milliarden und schließlich 2011 schon sieben Milliarden. Das bedeutet ein rapides, steiles Anwachsen der Weltbevölkerung innerhalb von 200 Jahren nach zweitausendjähriger relativer Stabilität. Doch wie geht es weiter? Schroeder reflektiert darüber, was in diesen 2000 Jahren geschehen ist, wodurch der plötzliche Anstieg der Bevölkerung ausgelöst wurde und welche Aussichten für die Zukunft angestellt werden können.
Für die erste Frage gibt es mehrere mögliche Antworten: Infektionskrankheiten, extrem hohe Kindersterblichkeit, Hunger, Kriege und eine Reihe potentieller anderer Gründe. Für eine Antwort auf die Frage nach dem rasanten Anstieg der Weltbevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert verweist Schroeder auf die Hygiene und die Wissenschaft; es war dies der Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters. So wurde herausgefunden, dass Bakterien Krankheitserreger sein können, wie reines Wasser hergestellt oder Lebensmittel haltbar gemacht werden können. Im Industriezeitalter hat der Mensch gelernt, Energie aus der Umwelt zu gewinnen und er hatte mehr Ressourcen, um wesentlich effizienter mehr Nahrungsmittel herzustellen, sodass Hunger nicht länger einen Selektionstod darstellte. Für Schroeder ist auch die Bildung von Nationalstaaten ein Aspekt des Bevölkerungsanstieges. Diese größeren Organisationen von Menschen regeln auch das Gesundheitswesen, welches den Menschen zugänglich gemacht wird. Die Aufklärung trug zur Loslösung von einer gewissen Ohnmacht bei, sodass der Mensch seine eigene Kreativität und Handlungsfähigkeit entdeckt hat.
Renée Schroeder verweist weiters auf den Aspekt der Fruchtbarkeit in Bezug auf die Erhöhung der Bevölkerungsrate. Fruchtbarkeit meint dabei die Anzahl der Kinder, die eine Frau haben könnte; heutzutage entspricht dies zehn bis zwölf Kindern pro Frau. Die Fertilitätsrate beschreibt hingegen die tatsächliche Anzahl an Kindern, die eine Frau bekommt. Im Jahr 1960 hatten Frauen in armen Ländern durchschnittlich sechs Kinder, also sehr viel, verglichen mit reicheren Ländern. Die Tendenz im Jahr 2010 geht in Richtung weniger Kinder bei mehr Ressourcen – in allen Ländern, egal welcher Ethnie oder Religion die Bevölkerung angehört. Es ist also festzustellen, dass die Fertilitätsrate weltweit sinkt, wohingegen angenommen wird, dass die Fertilitätskurve abflacht. Dies hängt auch mit der immer höher werdenden Alterserwartung zusammen. Daraus zieht Schroeder die Conclusio, dass die Weltbevölkerung abnehmen wird, sobald sie ihren Höhepunkt bei neun Milliarden Menschen erreicht hat.
Schroeder zieht weiters einen Vergleich zu Bakterien: Bei einer Bakterienkultur dauert es relativ lange, bis diese wächst, anschließend stellt sich eine vergleichsweise schnelle Wachstumsphase ein, ehe diese wieder abnimmt. Dabei ist zu hinterfragen, ob ein Konnex zwischen Bakterien und Menschen hergestellt werden kann. Auch der menschliche Organismus unterliegt gewissen Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich seines Wachstums. Unsere Zellen wissen, wie lange sie wachsen müssen: Eine Leber hat immer eine bestimmte Form, Hautzellen wuchern nicht – insofern ist das Wachstum kontrolliert. Lediglich Krebszellen haben das Wachsen „verlernt“ und wuchern. Möglicherweise ist dieses Muster auch auf das Bevölkerungswachstum anzuwenden. Eingedenk dessen stellt Schroeder die Frage, ob die Fertilität des Menschen chemisch reguliert oder bewusst gesteuert wird – eine Frage, auf die sie selbst keine Antwort hat, wie sie zugibt. Dabei nennt sie Hans Rosling, der die Bildung der Frau als die wichtigste Komponente für die Regulierung der Fertilität proklamiert. Frauen mit Zugang zu Bildung und Empfängnisverhütung haben im Schnitt zwei Kinder. Um das Wachstum zu regulieren, muss den Frauen der Zugang zu Bildung ermöglicht werden, so die Forderung Schroeders. Dadurch kann ein stabiles Wachstum erzielt und auch gehalten werden.
Der Wunsch und die Kraft, wachsen zu wollen, die dem Menschen seit seiner Entstehung innewohnen und schließlich im 17. und 18. Jahrhundert tatsächlich umgesetzt werden konnten, sind in heutiger Zeit nicht mehr positiv konnotiert. Unsere Gesellschaft ist derzeit auf Wachstum eingestellt. Renée Schroeder fordert jedoch die Umstellung von einer wachsenden zu einer stabilen Gesellschaft. Die Welt selbst ist ein System, das nicht von außen organisiert ist, sondern sich selbst verwaltet. Es existiert insofern kein äußerer Plan oder Sinn, der dieses System ordnet. Betrachtet man die Evolution, so gibt es eine enorme Anzahl an Ereignissen, die stattfinden und aus denen Neues entsteht und sich weiterentwickelt. Eingedenk dessen ist der Mensch für seine Evolution verantwortlich. Der Mensch der Gegenwart hat verstanden, wie seine Biologie und seine (soziale) Umwelt funktionieren; er ist erwacht und aufgeklärt. Die Evolution ist pragmatisch und nicht zielgerichtet – insofern ist der Mensch auch für seine Zukunft verantwortlich. Schroeder fragt sich, ob der Mensch es schaffen kann, altruistisch zu handeln, indem er sich vom Egoismus abwendet und das Gemeinwohl ins Auge fasst.
Samstag, 17. Mai 2014