Die Kreativität der Zeitverschwendung

Fritz Reheis lehrt als Soziologe an der Universität Bamberg und ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Er beschäftigt sich mit Langsamkeit, Kreativität und Entschleunigung.

„Nur net hudeln“ lautet die Devise von Fritz Reheis zu Beginn seines Vortrags, in dem es um eine angemessene Geschwindigkeit geht. Seit den Neunzigern des 20. Jahrhunderts arbeitet Reheis am Projekt „Ökologie der Zeit“, das sich mit den Themen Eigenzeit, Rhythmen und Pausen beschäftigt.
    
Die Schnelligkeit des Daseins beginnt laut Reheis bereits bei der Geburt. Er nennt dieses Phänomen „Turbo-Bildung“: Kinder sollen möglichst schnell fit für das Leben werden und die Leistungen bringen, welche die Erwachsenen erwarten. Die Schullaufbahn gestaltet sich als ein Wettlauf um gute Noten. Für viele SchülerInnen ist das ein Hamsterrad: Man hat das Gefühl, immer schneller laufen zu müssen, kommt aber dennoch nicht vom Fleck. Eingedenk dessen führt Reheis den Begriff der Ökologie der Zeit ein. Ökologie ist die Lehre vom Haushalten. Organismen haushalten mit ihren Umwelten. Sie benötigen Nährstoffe und bestimmte Informationen. Sie brauchen auch eine bestimmte Temperatur, um überhaupt leben können. Diese Austauschprozesse zwischen Umwelt und Organismen sind ganz zentral. Als Beispiel führt er Bäume an: Es gibt im Wachstumsvorgang der Natur eine doppelte Bewegung, nämlich die zyklische und die lineare. Zyklisch sind beispielsweise die Ringe des Baumes; ein Baum „erlebt“ immer wieder die gleichen Jahreszeiten; das prägt ihn. Dieses Wiederkehren ähnlicher Situationen ist für Pflanzen, Tiere und Menschen fundamental entscheidend. Man muss sich sicher sein können, dass Situationen wiederkommen. Diese Sicherheit ist für die Bereitschaft, Neues zu wagen, zu experimentieren, absolut fundamental. Deshalb fordert Reheis den Respekt vor Eigenzeiten.
    
In puncto Bildung und Eigenzeiten fragt Fritz Reheis, wie viel Zeit Kopf, Herz und Hand benötigen, um Bildung erst zu ermöglichen oder angenehm ablaufen zu lassen. Dabei kritisiert er, dass in unseren Schulen viel zu wenig Zeit für das Sehen, Hören, Riechen und Spüren übrig ist, denn erst danach sollen SchülerInnen Begriffe bilden, nachfragen, rückmelden und Fehler analysieren. Daran anschließend sollen Einzelheiten verknüpft und reflektiert werden. Kinder kommen mit unheimlich viel Neugierde auf die Welt, so Reheis. Wenn sie ein paar Jahre in der Schule sind, ist von dieser Neugierde aber nichts mehr übrig, kritisiert er. Kinder brauchen Zeit für das Tun und die praktische Anwendung. Das Üben wird von den Schulen aber nach Hause diktiert, obwohl dies in die Schule gehört. Durch das Üben entsteht der Genuss, etwas selber zu können, oder das Gefühl, mit einer Aufgabe fertig zu werden. Das höchste Bildungsziel ist die Entfaltung der Persönlichkeit und dies braucht seine Zeit. Zeit, herauszufinden, wer man eigentlich ist, wer man gestern war, wer man morgen sein will. Sich selbst als in der Zeit kontinuierlich zu begreifen, ist die Voraussetzung dafür, dass man Verantwortung übernimmt. Unsere Demokratie basiert ja darauf, dass der Mensch in der Lage ist, einen freien Willen zu entwickeln. Wenn in den Bildungseinrichtungen das Reifen der Willensfreiheit nicht möglich ist, haben wir eine Scheindemokratie, urteilt Reheis. Kinder müssen soziale Anerkennung erfahren und auch selbst Anerkennung entgegenbringen. Dabei müssen sie auch lernen zu genießen. Bildung ist laut Reheis ein Prozess, in dem Menschen ebendies lernen können. Wichtig ist, jene Fähigkeiten, die in uns und nicht in unseren Handys stecken, zu entdecken und uns daran zu erfreuen. Eine genussfeindliche Schule wird diesem Ziel jedoch nicht gerecht.
    

Abschließend präsentiert Fritz Reheis fünf Thesen zu Kreativität und Zeitverschwendung:

  1. Ein starker Antrieb zum kreativen Handeln ist die Erwartung der Selbstwirksamkeit. Besonders genussvoll ist dabei das Spiel mit den Grenzen. Man muss sich selbst als Original empfinden.
  2. Je besser die subjektiven Fähigkeiten und die objektiven Anforderungen zueinander passen, desto größer ist die Chance auf das Erlebnis der Selbstwirksamkeit und auf den Genuss der Grenzverschiebung.
  3. Die Verletzung von Eigenzeiten behindert das kreative Potential, weil Individuum und Gesellschaft sich aus Angst vor dem Versagen an vertraute Routinen und Muster klammern und ihr kreatives Potential nicht entfalten können. Wenn der Lernende mit unangemessenen Zeiten konfrontiert wird, kann er seine Potentiale nicht ausschöpfen.
  4. Die Passung von Fähigkeiten und Anforderungen kann nur in einem zwanglosen Zusammenspiel zwischen Person und Umwelt, zwischen Individuum und Gesellschaft gelingen.
  5. Die Chancen der Kreativität sind umso höher, je mehr an jenen Orten, an denen die Fähigkeiten eingesetzt werden (Schulen, Betriebe, Regierungen), und an jenen Orden, an denen die Anforderungen definiert werden, die Verschwendung von Zeit nicht nur nicht bestraft, sondern sogar belohnt wird. Wir brauchen Orte, in denen eigenzeitliches Denken und Handeln belohnt wird. Nicht alles soll entschleunigt sein, aber es soll Räume und Zeiten geben, in denen nur die Eigenzeit dominiert.

 

Freitag, 06. Mai 2011