Wozu eine neue Zeitkultur?

Stefan Klein ist einer der erfolgreichsten Wissenschaftsautoren deutscher Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg und forschte auf dem Gebiet der theoretischen Biophysik. Er wandte sich dem Schreiben zu, weil er „die Menschen begeistern wollte für eine Wirklichkeit, die aufregender ist als jeder Krimi“. Sein Bestseller trägt den Titel „Zeit – Der Stoff, aus dem das Leben ist. Eine Gebrauchsanleitung“.

Stefan Klein stellt zu Beginn seines Vortrags die Frage, warum wir eine neue Kultur der Zeit benötigen, und führt sogleich ein illustratives Beispiel an: Uhren sind allgegenwertig in unserer Gesellschaft. Seiner Ansicht nach sind sie für uns so etwas wie Stellvertreter einer höheren Macht, wir verklären sie zu höheren Wesen. Zur Veranschaulichung nennt Klein die Uhr am Bahnhof von Antwerpen, welche sich an einem Punkt befindet, wo früher in Kirchen das Auge Gottes angebracht war. Diese Uhr kann jeden, der darunter steht, überblicken. Diese Tatsache steht gleichsam für ein weiteres Faktum unserer Gesellschaft – sie repräsentiert eine dem Menschen höhergestellte Macht, so Stefan Klein.

Die Allgegenwart der Uhren bedeutet ein ständiges Bewusstmachen von Zeit. Uhren erinnern uns daran, dass die Zeit vergeht. Klein verweist auf die Wirtschaft und führt eine Statistik an, nach der 96 Prozent der deutschen Arbeitnehmer sich über ein zu hohes Arbeitspensum beschweren, wohingegen die Zahl dieser Gruppe vor einigen Jahren noch bei 47 Prozent lag. Die Conclusio: Immer mehr Menschen fühlen sich in Eile.

„Zeit ist Geld“ ist eine moderne Floskel geworden, die Zeit als etwas Kostbares, Wertvolles ausweist. Heute reden wir über Zeit, als ginge es um Finanzen: Wir haben Zeit, wir investieren Zeit, wir stehlen Zeit. Die Behauptung „Zeit ist Geld“ ist nach Klein heutzutage jedoch überholt. Das menschliche Gehirn misst Zeit ganz anders als eine Uhr es tut. Diese innere Zeit kann nicht gezählt, gespart oder gestohlen werden. Dabei haben wir, so betont er, meist mehr Zeit, als wir denken – ein voller Kalender bedeutet noch lange nicht, dass wir wenig Zeit haben oder dass uns Zeit gestohlen wird. Die gefühlte Zeitknappheit ist dabei oft nur eine Illusion. In Bezug auf das Gehirn und die gefühlte Zeit, welche nicht selten von der tatsächlichen Zeit signifikant abweicht, nennt Klein den französischen Geologen Michel Siffre. Siffre hat bewiesen, dass unsere innere Uhr ganz anders geht, als die äußere: Er verbrachte 1962 zwei Monate ohne Uhr in einer Höhle; als er diese wieder verließ, glaubte er, es seien nur 25 Tage vergangen, womit er seine These verifizierte.

Hinsichtlich der vergehenden Zeit fragt Klein nach den Hintergründen des bekannten Gefühls, wieso die Zeit schneller zu vergehen scheint, wenn wir älter werden. Er führt dies auf den Charakter des Neuen zurück, der in jüngeren Jahren viel stärker auf uns einwirkt. Wenn man jung ist, ist alles neu: Das erste Weihnachtsfest, der erste Geburtstag oder andere besondere Anlässe fesseln uns und wirken stärker auf unser Gehirn ein als spätere, bereits öfter stattgefundene bzw. wiederkehrende Ereignisse. „Wenn man 45 Jahre alt ist“, so Klein, „wurden ebendiese Ereignisse bereits dutzende Male erlebt – das Weihnachtsfest ist nicht mehr so interessant, der eigene Geburtstag jährt sich schon viel zu oft, als dass Informationen darüber detailliert abgespeichert würden.“ Stattdessen werden solche Eindrücke nicht mehr so gut von unserem Gehirn aufgenommen und bewahrt, sodass der Eindruck entsteht, dass die Zeit im Vergleich zu früher sehr viel schneller vergangen ist.

Daran anschließend stellt Klein die drei „Zeiträuber“ vor: Unkonzentriertheit, Stress und mangelnde Motivation. Zur Unkonzentriertheit gehört das Phänomen des „Multitasking“. Stefan Klein betont, dass der Mensch nicht zwei Dinge gleichzeitig machen kann; das Gehirn ist für so schnell wechselnde Aufmerksamkeit nicht gemacht. Er bringt das Beispiel einer durchschnittlichen Büroangestellten. Diese wechselt etwa zwanzigmal in der Stunde den Fokus ihrer Aufmerksamkeit, was zum Problem der Unkonzentriertheit führt, das uns in gewisser Weise auch tatsächlich Zeit „raubt“. Um Abhilfe zu schaffen, schlägt Klein vor, unsere Wahrnehmungsfilter zu trainieren, um sie auf diese Weise zu stärken. Dies führt gleichsam zum zweiten Zeiträuber, nämlich Stress. Dabei verhält es sich anfänglich nicht so, dass wir keine Zeit haben, weil wir gestresst sind: Zeitstress ist kein Mangel an Zeit, sondern meistens die Angst, Ansprüchen gerecht zu werden. Beim dritten Zeiträuber, der mangelnden Motivation, verweist Klein auf unsere Aufmerksamkeit: Diese ist automatisch gesteuert; sie folgt ganz kurzfristigen Zielen. Wir stecken uns im Laufe des Tages mehr oder weniger viele kleinere Ziele, die akut erreicht werden sollen: Wir wollen jetzt neugierig sein, jetzt ein Eis essen, jetzt die Zeitung lesen etc. Klein hebt hervor, dass wir an unseren Wünschen und Sehnsüchten arbeiten müssen, um wirklich sinnvoll mit der uns gegebenen Zeit umzugehen. „Wir müssen uns selbst erforschen“, so die Forderung. Indem wir immer mehr Möglichkeiten haben, verliert sich die Bedeutung der äußeren Uhr. Der Uhrzeiger ist ein Instrument, uns zu koordinieren. Klein spricht sich dagegen aus und fordert, ihn nicht länger zu vergöttern.

Donnerstag, 05. Mai 2011